Daily Lena

 

Von einem anderen Stern

Gepostet von um 17:36 Uhr

by gauloises
Die Frage, worauf Lenas Erfolg zurückzuführen ist, scheidet die Geister. Das Feuilleton strotzt vor Bewertungen, die sowohl den beiden bisher erschienenen Alben als auch Lenas stimmlichen Fähigkeiten lediglich ein mittelmäßiges Niveau attestieren. Ungeachtet der Substanz und Stichhaltigkeit dieser Bewertungen soll die These hier sein, dass es nicht so sehr eine Rolle spielt, was Lena singt oder mit welcher Gesangstechnik sie dies tut – bereits der Umstand, dass Lena in einem bestimmten Moment auf der Bühne steht und dass sie singt, reicht aus, um den Betrachter mit auf die Reise in eine andere Welt zu nehmen.

Reise in eine andere Welt? Da mag man dem Autor dieser Zeilen vielleicht ein übersteigertes Fansein vorhalten. Beginnen wir deswegen noch einmal anders: Angesichts von über 56 Millionen Online-Zugriffen auf das “Satellite”-Video (1), angesichts des überwältigenden Erfolges beim Eurovision Song Contest und angesichts dessen, dass das erste Album “My Cassette Player” fünffachen Goldstatus erreicht hat, lässt sich durchaus die Annahme ableiten, dass einem außergewöhnlichen Erfolg ein außergewöhnliches Phänomen zugrunde liegen muss. Zumal es Lena gelungen ist, allen “Overkill”- und “Der Zauber ist vorbei”-Unkenrufen zum Trotz, mit ihrem neuen Album “Good News” bereits in der Veröffentlichungswoche Goldstatus zu erlangen und bei der Ausstrahlung der Finalshow von “Unser Song für Deutschland” 3 Millionen Menschen vor den Fernseher zu locken.

Die Frage darf gestellt werden: Welchem anderen deutschen Künstler ist innerhalb nur eines Jahres eine Aneinanderreihung von derlei Kennzahlen zuzutrauen? Und daran anschließend: Lassen sich diese Geschehnisse durch solche Plattitüden erklären, wie dass hier jemand ist, der passabel singen kann, hübsch daherkommt und raffiniert vermarktet wird?

Natürlich spielen in diesem Betrachtungsfeld Lenas Stimme – die, wie selbst distanzierte Kritiker einräumen, einen hohen Wiedererkennungswert hat -, ein kluges Management und nicht zuletzt Lenas äußere Erscheinung (oder nennen wir es Schönheit!) eine tragende Rolle, das soll gar nicht wegdiskutiert werden. Doch wer etwa Lenas Auftritt mit dem Song “Mr. Curiosity” mitbekam (bzw. das dazugehörige Video kennt), weiß, dass da noch viel mehr ist: Da passiert etwas, wenn Lena die Bühne betritt, noch bevor der erste Ton erklingt. Wenn sie mit dem Vortrag beginnt, denkt man zunächst, man sei deswegen innerlich angespannt, weil dies bei ordentlich gemachten Balladen nunmal so ist. Und während man sich so noch bemüht, gedanklich alles brav einzuordnen, wird man ohne jede Vorwarnung gepackt, getroffen, schlichtweg überwältigt und Zeuge eines die Seele schleudernden Naturereignisses.

Im Web sind zahlreiche Berichte zu finden, die eindrucksvoll schildern, welche Rührung, welche Sprach- und Fassungslosigkeit der “Mr. Curiosity”-Auftritt erzeugte. Diese von Lena zelebrierte Performance, diese urgewaltige und zugleich zerbrechliche Präsenz auf der Bühne, diese Fähigkeit, erwachsene Menschen in den Glauben zu versetzen, sie hätten zum ersten Mal in ihrem Leben Musik gehört: Rien ne va plus, wer nach Vergleichen sucht, der suchet lang.

Der US-amerikanische Blogger Will Adams erkannte Lenas herausragende interpretatorische Fähigkeiten (manche nennen es Interpretationsmanie) zu einem frühen Zeitpunkt und hielt in einem leidenschaftlichen Beitrag zu Lenas “Satellite”-Video fest: “There’s a fine line between puppy love and psychotic obsession — and Lena Meyer-Landrut blurs it brilliantly. […] A true masochist, she soon converts that pain into pleasure. When the chorus rolls around, she radiates ecstasy while dancing in a black void and compares herself to the loneliest of travelers […] As the song goes on, her neuroses pulsate to the bongo drum and xylophone accompaniment. […] Taken with her animated scowls, pursed lips and dark intonations, it’s enough to conjure up images of Glenn Close boiling a bunny rabbit.” (2)

Wohlgemerkt: Ein Begeisterter spricht hier von einem eher simplen Video, das Lena mit jeder Menge Ausdruck und Schauspiel ausfüllt. Live on Stage kann Lena ihre Potenziale jedoch um ein Vielfaches mehr ausspielen, siehe “Mr. Curiosity”, siehe überhaupt ihre besondere Interaktion mit dem Publikum, die sie über die komplette letztjährige Auswahlshow “Unser Star für Oslo” von allen anderen Kandidaten klar absetzte – und die auch zu vielen anderen Anlässen wirkte: als Lena etwa den kleinen Osloer Club “Smuget” zum Kochen brachte (siehe YouTube), oder als sie beim großen Auftritt am 29. Mai 2010 noch während ihrer Darbietung Szenenapplaus eines offenbar durchgeschüttelten und lenafizierten Publikums erhielt. Spätestens seit der denkwürdigen Performance des 29. Mai nähern sich viele Betrachter dem Phänomen Lena immer wieder mit Hilfsbegriffen wie “Vulkan”, “Komet”, “Supernova”, da sie mit herkömmlichen Analysen keine befriedigenden Antworten mehr erhalten.

Eine solche Aura hat man oder hat man nicht, eine solche mitreißende Gabe bleibt nur ganz wenigen Ausnahmetalenten vorbehalten. Die deutsche Musikkritik hat dies noch nicht erkannt, da sie Lena immer noch auf ein Casting-Phänomen und Medienprodukt reduziert. Die Scheren im Kopf scheinen bleiern und die Sinnesorgane paralysierend; die Verrisse zur diesjährigen Auswahlshow “Unser Song für Deutschland” wirken – bezogen auf Lenas Leistung, Ausdruck und Präsenz – wie Elaborate taub-blinder Feuilletonisten, deren Rausch ihre vorgefasste Meinung ist. Wer den Glanz von Lenas “Push Forward”-Auftritten nicht erkennen kann, dem ist nicht mehr zu helfen. Gottlob hat Lena aus dieser Ecke keinen Support nötig, sie ist mit ihrem künstlerischen Können längst auf der Überholspur.

Dieses Können verleitete Barbara Schöneberger, als sie in der Finalshow die “Taken By A Stranger”-Performance bewerten sollte (welche abermals ein Saalpublikum zum Ausrasten brachte), ihren Eindruck ob des soeben Erlebten wie folgt zusammenzufassen: “Jetzt knallt sie durch, die Alte!” Adel Tawil ergänzt: “Der Song ist von einem anderen Stern, und das braucht Lena.” Hier irrt Adel Tawil! Es ist Lenas Darbietung, die von einem anderen Stern ist, ihr unglaublich mystisches Spiel mit Eros und Gefahr, die Art und Weise, wie sie, einem edlen Dämon gleich, das Publikum verführt und umgarnt – und das braucht der Song.

Wenn es den Spruch “It’s the singer, not the song” nicht bereits gäbe: Frank Sinatra müsste auf die Erde zurückkehren und ihn eigens für Lena erfinden.

(1) Anzahl der Gesamtklicks auf YouTube und auf der offiziellen Eurovision-Seite
(2) http://www.huffingtonpost.com/will-adams/germanys-eurovision-2010_b_560260.html