Daily Lena

 

Singing oh-oh on a Wednesday Night

Gepostet von um 17:37 Uhr

by jupp
Mit dem ersten Kick der Basedrum erobert sich die O2-World in Berlin in souveräner Manier den Preis für die sinnloseste Innenraumbestuhlung ever: Der Innenraum steht und wird sich, bis das Licht angeht, auch nicht mehr hinsetzen. Der satte, tiefe Schlag ist plötzlich da, trifft dich in den Bauch und vibriert genau da nach, wo er soll. Das Becken folgt, trocken, hart und präzise. Das ist das erste, was man kapiert: Dieser Drummer hat nicht vor, im Kinderprogramm aufzutreten. Er meint es ernst. Das wird den ganzen Abend so gehen. Die Rhythmusgruppe treibt selbst Songs wie Bee und My Cassette Player alles Süß-Vertändelte aus und macht mit einem straighten Backbeat Kopfnicker daraus. Vom ersten Takt an webt die Band Lena einen prachtvollen Klangteppich. Sie wird darauf fliegen.

Das alles ist im Grunde schon klar, da hat man noch nicht einmal erkannt, was eigentlich der erste Song ist. Das ist das zweite, was man kapiert – und könnte schon wieder eine kleine Auszeit gebrauchen, um darüber zu staunen, dass LML es zuverlässig wieder ganz anders macht, als die meisten Prognosen vermutet hätten: Das ist weder A Million and One noch My Same. Das ist Not Following, und zwar druckvoll.

Das dritte, was man kapiert, ist, was all die Leute meinten, die immer schon sagten, dass Lena live nicht dasselbe sei wie auf CD oder im Fernsehen. Man hört sie singen, da sieht man sie noch gar nicht. Es gibt keinen großartig inszenierten Einstieg, wahrscheinlich mit Absicht nicht. Die Band spielt, und plötzlich steht sie da, ganz in schwarz – schwarze Sneakers, schwarze Jeans, enges schwarzes Top, darüber anfangs eine Art Baseballjacke, die aber bald verloren geht. Es ist Lena. Aber ihre Stimme ist etwas völlig anderes, als man es von zu Hause kennt. Der Gesang dieser Eröffnungsnummer hat nichts zu tun mit der glockenhellen, mädchenhaften, zarten Stimme der CD-Aufnahme. Fast erscheint er eine Oktave tiefer, aber das ist er natürlich nicht. Nur erdiger, voluminöser, rauher, reifer. Mit dieser Stimme ist Not Following nicht mehr das Lied, das man zu kennen glaubte. Sie singt es grandios. Es könnte kaum besser beginnen.

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Lena lässt erstmal keine langen Überlegungen zu. Auf den Opener folgen, beinahe ohne Pause, weitere schnelle Nummern. Publikumsansprache kommt erst, als Lena zum ersten Mal das Tempo ein bisschen herausnimmt, bei At All. Das ist nicht gerade der stärkste Song in ihrem Repertoire, aber sie zelebriert ihn, lässt die Ränge links und rechts abwechselnd den Refrain singen, rennt über die Bühne, grinst, lacht und gestikuliert, und freut sich wie Bolle, als die Halle ihr willig folgt. Das ist das nächste, was man kapiert: Sie kontrolliert diese Show mit einer fast schon beängstigenden Souveränität. Keine Spur von Unsicherheit, nicht einmal kokettierend. Es gibt kein wildes Quasseln wie in den legendären Dankesreden, kein Eingeständnis von Nervosität oder Lampenfieber, kein »das kann nicht echt sein«, überhaupt kaum eine Erwähnung der unglaublichen Tatsache, dass das ihr erstes großes eigenes Konzert ist. Es gibt auch keinerlei explizite Anknüpfung an USFO oder den ESC. Lena steht da oben nur für sich selbst und nur als sie selbst, und sie agiert mit ihrem Publikum und ihrer Band, als hätte sie nie etwas anderes getan. Und sie agiert, als wünsche sie sich, nie wieder etwas anderes zu tun. Sie verpatzt ihren Text mindestens einmal– ausgerechnet bei Love Me –, singt dafür die passende Zeile »I don’t give a shit« extra laut und mit Absicht zweimal und lacht sich kaputt. Zwei Videoleinwände zeigen sie quasi ausnahmslos im Close-up und man sieht dort nichts als Strahlen.

Es gibt einen bestimmten, beinahe intimen Lena-Moment – fast immer, wenn der Jubel nach einem Lied einsetzt, kurz bevor die Scheinwerfer abblenden (was sie nach beinahe jedem Lied tun): Da spielen im Halbdunkel auf ihrem Gesicht das Lächeln des Profis und das Lächeln des Mädchens miteinander, das trotz allem immer noch nicht begreifen kann, dass sie diese mehreren tausend Menschen tatsächlich in ihrer Hand hält.

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Der Gedanke, dass es nun eigentlich nicht mehr besser werden kann, taucht das erste Mal beängstigend früh auf, nämlich beim sechsten Lied. Das ist Mr. Curiosity.

Das Hintergrundlicht wird knatschgrün, Lena scheint beinahe allein auf der Bühne zu stehen. Es ist eigentlich genau wie bei USFO. Mit einem Unterschied: Das hier ist besser. Es ist nicht nur so, dass Lena diesmal auch die schwierigsten Töne trifft, nicht nur so, dass sie die Intensität des USFO-Auftritts tatsächlich mühelos zu erreichen scheint – es ist einfach, als läge nicht ein Jahr des Erwachsenwerdens, sondern ein Jahrzehnt zwischen diesen beiden Auftritten. Flüsternd, bittend, flehend umschmeichelt diese Stimme die Worte des Textes, jede ausgedrückte Nuance aus tiefstem Innern zu kennen scheinend, steigt zu »love is a mystery, Mr. Curiosity, be Mr. please« mühelos in die Höhe, verwebt sich in einen Gitarrenpart, der einem die Tränen in die Augen schießen lässt, weil der Geist David Gilmours in Bruno Müller fährt – so scheint es jedenfalls, man kann vermuten, dass er tatsächlich einfach nur versucht, seine Gitarre wie Lena singen zu lassen – schöpft noch einmal Kraft und treibt uns – »do come and find me« – den Schmerz und den Mut der Verzweiflung mitten ins Herz, während sie selbst – »and I try… and I try« – in Sphären aufsteigt, in denen vielleicht ein Trost für sie zu finden sein wird, während wir unten zurückbleiben und nur wünschen, dass dieser süße Schmerz nicht mehr aufhört.

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Das zweite Mal meldet sich der Gedanke, dass es jetzt aber wirklich nicht mehr besser geht, kurz nach der Hälfte des Konzerts. Bis dahin haben wir viele der starken Songs von Good News gehört – alle hervorragend vorgetragen, obwohl es insbesondere Push Forward und Maybe, die direkt auf Mr. Curiosity folgen, in dessen Schatten schwer haben. Die Lightshow, denkt man gelegentlich, war sicher sehr teuer. Eigentlich schade drum. Man kann sich angesichts Lenas nicht wirklich vorstellen, dass jemand darauf achtet. Einen Zwischenhöhepunkt bildet That Again, das hier von seinem überkandidelten Arrangement befreit und mit einem fantastischen Gitarrensolo von Bruno Müller veredelt zu einem wahren Partykracher heranwächst. Aber der Moment, in dem man die Luft und die Zeit anhalten möchte, ist das Gospel-Intro zu Good News, das einen unwillkürlich denken lässt, Hannover liege vielleicht doch im Mississippi-Delta. Man möchte wieder ein bisschen heulen, diesmal aber vor Glück.

Ist das noch Lena? Sieht so aus. Aber wer ist dann das Hip-Hop-Chick, das unmittelbar danach beatboxend mit dem bereits vor dem Konzert geleakten Cover von Drop It Like It’s Hot die Bühne entert – nur um eine Minute später das Ganze in eine knallige Version von I Like to Bang My Head umkippen zu lassen?

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Das Ende wird durch das klassische Stilmittel des vorgetäuschten Die-Bühne-Verlassens eingeleitet – obwohl zu diesem Zeitpunkt noch fast ein Drittel des Programms vor uns liegt. Inzwischen hat Lena einen ganz neuen Song gespielt (desen Titel anzusagen sie anscheinend vergisst – irgendwas mit love – ein fröhlicher, Americana-lastiger Autofahrsong, der ein bisschen klingt, als sei er von Springsteen geschrieben) und mit Mama Told Me das Haus gerockt. An dessen Ende tanzt sie mit ihren Tänzerinnen von der Bühne, während die Band weiterspielt. Von jetzt an geht es Schlag auf Schlag. Plötzliches Dunkel, Trockeneis und grelle Blitze kündigen Taken By a Stranger an, das hier mit einem großartigen Pink Floyd-artigen Intro versehen wird, welches allein schon länger dauert als der ganze ESC-Auftritt gehen darf. Lena und die Tänzerinnen erscheinen wieder – Letztere als das beliebte Samenballett, Lena jetzt in hohen schwarzen Schuhen und schwarzer Stoffhose. Das ist verdammt cool und hält das Niveau, steigert es aber auch nicht. Vielleicht kann man es nicht mehr steigern, denkt man.

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Sie kann.

Der Moment musste ja kommen, und wahrscheinlich haben alle auf ihn gewartet, aber jetzt kommt er so unverhofft, dass man ihn fast verpasst.

»Ay, ay…«

Eine einzelne Stimme in der Halle brüllt los, aber der Rest ist noch zu absorbiert von den Trockeneisschwaden und den gerade erst verklungenen Sounds von Taken By a Stranger, um zu begreifen, was kommen wird. Für eine Sekunde scheint Lena irritiert, schaut fragend ins Rund – »na?« – und singt erneut: »Ay ay…. Ay ay…«

Was dann nicht passiert, zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Die Gitarre steuert den wohlbekannten schrägen Auftaktakkord bei, in Gedanken hört man – wie in der tausendfach gehörten USFO-Aufnahme – den Bandleader einzählen, der Körper streckt sich in Erwartung der kraftvoll einsetzenden Drums, wartend auf den Moment, sich fallen zu lassen, auf den ganz großen Knall, auf den Wirbelsturm – und bleibt in der Luft schweben. Verzaubert, schwerelos. Lena singt. Leise, aber fast zerspringend vor Intensität. Hauchend, gurrend, knurrend erzählt sie: »You say I’m stubborn and I never give in…« Das Schlagzeug, das uns den ganzen Abend Beine gemacht hat – ein sanftes Streicheln des Jazzbesens. Fast zögernd gezupfte Gitarren-Akkorde, sonst nur Lena. Dies, ladies and gentlemen, ist die NDR-Talkshow-Version von My Same. Sie ist atemberaubend, großartig, raffiniert, alles. Und geht am Ende dann doch richtig los. Die Bläser strahlen, Lena reißt alle Register auf und röhrt und soult die letzte Strophe, dass es nie enden soll. Man kann so etwas immer leicht sagen, aber heute nacht ist der großen Adele dieser Song endgültig gestohlen worden. Begeisternder kann man dieses Lied nicht singen. Begeisternder kann man eigentlich überhaupt nicht singen.

Jetzt – man denkt es zum dritten Mal – jetzt kann man es nicht mehr steigern.

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Sagte ich Schlag auf Schlag?

Es folgt der – angeblich – letzte Song. Blaue Bühne. Ein riesiger Multi-Scheinwerfer fährt wie ein Raumschiff von der Bühnendecke herab und scheint sich über Lena stülpen zu wollen, und während man noch denkt, »alles klar, jetzt kommen sie sie nach Hause holen«, singen die Background-Sängerinnen die Harmonien von Satellite. Es ist die A-cappella-Version – zumindest für eine Strophe. Danach setzt die Band ein und hämmert den Song nach Hause, dass man die Heavytones nicht weiter vermisst. Die Halle tanzt, die Halle singt und brüllt den Text, Lena strahlt. Sie bedankt und verabschiedet sich. Sie geht. Natürlich glaubt niemand ein Wort. Da fehlt noch was.

Man wünscht sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als noch einmal als Dummerchen enttarnt zu werden. Sie soll es noch einmal steigern, wenn sie kann. Aber womit sollte das gehen?

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Es geht. Mit einer langen, gitarrenlastigen, unfassbar geilen Version von New Shoes.

Es ist die Quintessenz des Abends. Denn aus dem fluffigen Poprock von Paolo Nutini mutiert unter Einsatz einer dröhnenden und quengelnden Orgel ein Stück tiefergelegter Südstaaten-Rock, der sich gewaschen hat. Lena und alle Tänzerinnen in einer Rhythmusformation bewegen sich, dass man den minderjährigen Kindern in der Halle die Augen zuhalten möchte, während die Backings den jubelnden Chorus dreistimmig schmettern und ihn schließlich mit Lena zusammen nur von den knallenden Drums begleitet wie unter Strom in die Halle jagen, immer wieder, bis zum Schlussjubel. Oh ja: Ich habe die Zukunft des Rock’n’Roll gesehen und ihr Name ist Lena Meyer-Landrut.

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Nun ist es vorbei. Mehr Wumms geht nicht. Es folgt die sanfte Streicheleinheit zum Abschluss. Touch a New Day. Die Halle wiegt und schaukelt sich in die kollektive Zufriedenheit, tausende Arme wippen im Takt, den Lena vorgibt. Man glaubt es ihr, wenn sie sagt, dass sie unendlich glücklich und dankbar ist (»danke« ist mit Abstand das häufigste Wort an diesem Abend) und sich keinen besseren Tourstart hätte wünschen können. Man darf annehmen, dass die Anwesenden das auch so sehen. Deswegen gehen leider einige schon und verpassen den Rausschmeißer. Noch einmal kommen vier Menschen auf die Bühne zurück. Lena singt, jetzt im weißen Leibchen, ein letztes Lied. Welches, wird nicht verraten. Am Ende kniet sie auf der Bühne und das wirkt noch nicht einmal pathetisch.

Menschen werden Dich lieben. Das muss so.

We heart you too.