Daily Lena

 

Zauberhaftes Charisma. Über den Versuch, nach den Sternen zu greifen

Gepostet von um 17:42 Uhr

by pete
Die wissenschaftliche Annäherung an Popkultur und Popmusik steckt, über ein halbes Jahrhundert nach deren Anfängen, immer noch in den Kinderschuhen und muss sich ihren Platz im akademischen Gefüge nach wie vor gegen belächelnde Herablassung erkämpfen. Besonders trübe sieht es mit der Analyse dessen aus, was den mentalitären Kern des Pop ausmacht: nämlich die affektive Identifikation mit sowie die Bewunderung für Stars.

Ein weithin anzutreffender, nichtsdestoweniger unzutreffender Konsens über Popstars lautet, dass sie mehr oder weniger beliebig durch die Massenmedien (re-)produzierbar seien. Jana Elzner widerlegt in ihrer Arbeit „Faszination Star. Das Phänomen der Lena Meyer-Landrut“ mit beeindruckender argumentativer Stringenz diese Ansicht, die sich hauptsächlich aus der oberflächlichen Betrachtung kurzlebiger Hypes speist, welche durch inflationär hervorsprießende Casting-Shows erzeugt werden. Elzner argumentiert, dass die Massenmedien dem Publikum lediglich ein Angebot an „Star-Entwürfe[n]“ (S.16) unterbreiten können; ob es diese auch als Stars akzeptiert, bleibt seine Entscheidung und hängt wesentlich von bestimmten Kerneigenschaften des jeweiligen Stars in spe ab.

Diese erwünschten Kerneigenschaften stehen notwendigerweise in enger Relation zur psychosozialen Verfasstheit des Publikums. Gegenwärtig ist diese der Autorin zufolge durch „Individualisierung und Pluralisierung unserer Gesellschaft [geprägt]. Der Trend hin zu einer ausschließlich individuellen Lebensführung macht das ‚individuelle Selbst’ (Sommer) jedes einzelnen zum Fokus seines sozialen Handelns. […] Individuen sind somit darauf angewiesen, ihre einzigartige Persönlichkeit zu konstruieren, zu etablieren und zu demonstrieren, um eine gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen. Die zunehmende Orientierungslosigkeit durch die entstandene Vielfalt an Lebensmodellen und Möglichkeiten erschwer[t] dem Individuum den Zugang zur Richtung und [zum] Typus seiner Individualität. Die Suche der Menschen innerhalb moderner Gesellschaften nach Orientierungsmustern, sinn- und identitätsstiftenden Elementen ist dadurch ebenso gestiegen wie der daraus resultierende Bedarf an Vorbildern.“ (S.12 f.)

Als Vorbilder wie auch als Idole und Stars kommen laut Elzner Menschen in Frage, die jeweils individuell als überlegen empfunden werden. Doch worauf bezieht sich diese Überlegenheit? Die Autorin sieht deren Grundlagen weniger in für die Gegenwart spezifischen Fertigkeiten, sondern mehr in Eigenschaften, die als anthropologische Konstanten aufzufassen sind. Im Rückgriff auf die vormoderne Menschheitsgeschichte schreibt sie: „Zu den Merkmalen menschlicher Gruppierungen gehört seit jeher, dass sich in ihnen Menschen mit einem besonderen Ansehen bilden, Menschen, ‚die neben dem Dunkeln der Anderen’ (Ludes) hervorleuchten. […] Immer waren es Menschen, die das Durchschnittliche, die dominante Regelmäßigkeit der Gruppe durchbrachen.“ (S.8 f.) Im Idealfall wird dabei gleichzeitig mit der Bewunderung des Außergewöhnlichen die Identifikation mit dem „Normalen“ am Star-Menschen erreicht, die es dem Bewunderer ermöglicht, sich selbst im Star wieder zu erkennen.

Inwieweit diese Akzeptanz des Stars Lena gelingt, zeigt die Autorin im empirischen Teil ihrer Arbeit, für den sie eine Online-Umfrage im Lenaisten-Forum durchgeführt hat. Dabei zeigt sich, dass Lena für ihr Publikum sämtliche Star-Kriterien erfüllt, die im theoretischen Teil erörtert worden sind. Das beginnt mit der äußeren Beschreibung Lenas, bei der „eine überdurchschnittliche Bewertung ihres Aussehens durch die Befragten gezeigt werden [kann]“ (S.33), setzt sich fort über die Zuschreibung künstlerischer Eigenschaften (S.34 f.), bei der bereits superlativische Begriffe vor allem für ihre „’performerischen’ Fähigkeiten“ gebraucht werden, und gipfelt in der Beschreibung der charismatischen Wirkung Lenas (S.35 f.), bei der der Tonfall der Teilnehmer vollends hymnisch gerät. „Ein 33-jähriger User beschreibt die charismatische Wirkung Lenas mit folgenden Worten: ‚Lena ist eine überaus charismatische und humorvolle Künstlerin, die – auf geradezu virtuose Weise intuitiv – mit der Schönheit der Welt spielt. Ihr Bühnenspiel ist reine verspielte Ästhetik, die sich aus Lenas verzauberndem Wesen selbst speist.’“

Diesem „Überwältigende[n], Unerklärliche[n] und Geheimnisvolle[n]“ (S.36) gegenüber steht die Zuschreibung von persönlichen Eigenschaften (S.34), die gerade nicht idealisiert erscheinen. Zuschreibungen wie „sympathisch, lustig, klug, liebenswert, intelligent, fröhlich, verrückt, respektvoll, normal, selbstbewusst, herzlich, warm, frech, ehrlich, sexy, cool, spontan, unkompliziert, gelassen, bodenständig, engagiert, intuitiv, prinzipientreu etc.“ weisen Elzner zufolge eher darauf hin, „dass die Teilnehmer den Star Lena innerhalb ihrer personalen Erscheinung als eine von ihnen betrachten. Durch die Zuschreibung gewöhnlicher Eigenschaften, mit denen eine Vielzahl von Menschen umschrieben werden können, wird deutlich, dass die Teilnehmer menschliche Eigenschaften in ihrem ‚Star-Objekt’ wieder erkennen, mit denen sie sich selbst identifizieren können.“ Diese geradezu idealtypische Übereinstimmung der Wahrnehmung Lenas durch ihr Publikum mit den von Elzner erarbeiteten Star-Kategorien spiegelt sich denn auch im Ergebnis der Schlussfrage, ob Lena ein Star sei: 87 % der Befragten bejahen dies. (S.43)

Die Zuschreibungen des Publikums, die Lena als Vorbild konstituieren, kommen ebenfalls deutlich zum Ausdruck. Wie bereits angesprochen, handelt es sich dabei nicht um Eigenschaften bzw. Fähigkeiten, die für die kapitalistische Gesellschaft der Spät- bzw. Postmoderne spezifisch sind, sondern um allgemein menschliche Tugenden; besonders häufig wurden Selbstbewusstsein, Optimismus bzw. positive Lebenseinstellung, Mut bzw. Furchtlosigkeit sowie Gelassenheit genannt (S.39). „Die Antworten der Teilnehmer machen deutlich, dass die scheinbaren, medial vermittelten persönlichen Eigenschaften der Starfigur Lena den Nutzern als Vorbildfunktionen dienen. So bietet die Verkörperung der persönlichen Rolle des Stars seinen Rezipienten Orientierungshilfen innerhalb ihres sozialen Handelns. […] Tendenziell ist zu sagen, dass die Wünsche der Teilnehmer … sich eher auf die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beziehen.“ (S.40) Daher resümiert Elzner, dass Lena „für viele der Befragten zu einem ‚Hoffnungsträger’ für das Erreichen der eigenen Ziele und der Verwirklichung individueller Ideale [wird]“; und dass „Stars mit ihrem Potential Menschen zu ‚verzaubern’ … uns als alltägliche Orientierungshilfen dienen und dem Individuum einen Zugang zur Richtung seiner Individualität verschaffen. So haben wir ‚die Sterne immer gebraucht, um unseren Weg zu finden. Wir brauchen Popstars zur Navigation’ (Bloom).“ (S.45)

Gerade weil „das Starphänomen in Teilen der Wissenschaft häufig als substanzlos gilt und belächelt wird“ (S.45), kann Elzners Arbeit als verdienst- und wertvoll betrachtet werden. Sie bietet eine schlüssige und argumentativ konsistente Erklärung dafür, warum Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildungsstand sich vom Charisma und von der Persönlichkeit eines Stars „verzaubern“ lassen. (Die Teilnehmer an der Umfrage waren zwischen 13 und 67 Jahre alt, und die geschlechtliche Verteilung war 79 % männlich zu 21 % weiblich; siehe S.29 f.) Es bleibt zu wünschen, dass Elzners Beitrag Anstoß und Ansporn ist, um dieses Themenfeld wissenschaftlich zu vertiefen; eine Bachelorarbeit von 50 Seiten Umfang sollte nicht das letzte Wort dazu bleiben.

Jana Elzner: Faszination Star. Das Phänomen der Lena Meyer-Landrut. Bachelorarbeit. Siegen 2010. ISBN 978-3-640-83213-2