Daily Lena

 

Das L-Wort

Gepostet von um 17:43 Uhr

by jupp
Das L-Wort

Eine Erklärung

Eine Nacht. Eine Halle, die ein verkleidetes Stadion ist. In ihr der offene Wahnsinn. Eine lichtgewitternde Videoleinwand von der Höhe eines Mietshauses, wie außer Kontrolle um sich selbst kreisende Scheinwerferbatterien, Trockeneiskanonen, sechsunddreißigtausend entfesselte Menschen, die einen Höllenlärm machen, ein unüberschaubares Gewusel tanzender Fahnenschwenkerinnen auf einer gigantischen Bühne. Das Ganze wirkt, als hätte man einen beträchtlichen Teil des Karnevals in Rio auf einen Weltraumbahnhof gebeamt, kurz nachdem anarchistische Rebellen die Steuerung der Laserbatterien gehackt haben. Und da, in der Mitte dieses tosenden Deliriums, kommt eine schwitzende, am Rande der Überdrehung knüppelnde Rockabillykapelle aus der Kurve und stürzt sich in die letzte Bridge, als ginge es um ihr Leben. Der Sänger ist am Anschlag, der walking bass tritt ihm in den Arsch, und die Bläser schießen goldfunkelnde Pfeile in seinen Rücken – jetzt, jetzt hat er es geschafft, „there’s no escape“, ein letzter blechschmetternder Dominantseptakkord und –

In dieser Sekunde geht das Licht aus und stürzt die Halle ins Dunkel. Nacht.

Doch nicht ganz. Ein einziger Scheinwerferstrahl durchschneidet das Dunkel, weist uns die Richtung, staubwirbelnd, lichtdampfend, und wie an einer Seilbahn gleiten die Blicke an ihm entlang.

Licht an.

In dem kleinen bläulich weißen Kreis, den der Lichtfinger auf den Bühnenboden malt, steht eine schmale, zierliche Gestalt.

Mädchen da.

Sechsunddreißigtausend Kehlen entfährt ein Orkan, der den bisherigen Lärm zur Stille degradiert. Sechsunddreißigtausend Herzen schlagen ihr im Takt entgegen.

Dies ist Lenas Nacht.

***

Licht an – Mädchen da. Der von Peter Urban für einen Dokumentarfilm gesprochene Satz diente ursprünglich dazu, die Professionalität der frischgebackenen Berühmtheit Lena Meyer-Landrut in die Form eines griffigen Slogans zu gießen. Aber ich habe ihn immer anders verstanden. Er klingt leicht nach „Licht an – Maske auf“, und das ist nicht, was in Lenas Nächten geschieht. Zwar flammen in Lenas Nächten die Bühnenlichter auf. Die Bühnen sind klein oder groß und das Publikum besteht aus dreißig Vögeln oder aus hundertzwanzig Millionen. Aber was sich in diesem Licht zeigt, was da ist, ist nicht eine Maske und auch nicht eine professionelle Unterhaltungskünstlerin. Jedenfalls nicht nur. Da ist tatsächlich „das Mädchen“ – der Mensch Lena Meyer-Landrut. Und das ist und bleibt das Wunder. (Denn wir urbanen Popkultur-Typen wissen natürlich, dass es so etwas eigentlich nicht gibt.) Doch in Lenas Nächten geschieht es, dass die perfekte Darbietung der Bühnenkünstlerin gleichsam transparent wird und für einen kostbaren Moment Lena hindurchscheint – in einem glucksenden Lachen über den eigenen Spaß am Auftritt, einem nicht überspielten Moment der Sprachlosigkeit oder der versagenden Stimme, einem halb verborgenen, schüchternen Lächeln, das sagt: „Meint ihr wirklich mich?“ Manche Kommentatoren zogen daraus den Schluss, Lenas Wirkung beruhe auf einer Schwäche, auf ihrer vermeintlichen Unprofessionalität, und werde sich mit dieser zusammen verflüchtigen. Das war ein Irrtum. Denn Lenas Nächte sind nicht das Resultat von Schwäche, sondern einer immer wieder fassungslos machenden Stärke: der Stärke, trotz aller Professionalität solche unplanbaren, ereignishaften Momente der Durchsichtigkeit geschehen zu lassen, wenn sie kommen, ohne jede Angst.

Eine frühere Nacht. Eine andere Halle. Eine perfekt choreographierte Inszenierung steht kurz vor ihrem Höhepunkt. Achtzehntausend feiernde Menschen, Fanfaren, Sprechchöre, Konfetti und Hunderte wie ein Sternenhimmel funkelnde Scheinwerfer. Ein mit der drohenden Überwältigung kämpfendes Mädchen steigt unsicher eine Treppe hinunter und wird von der frenetisch tobenden Menge empfangen. Ihre Hand kann sich nicht entscheiden, ob sie ihr Gesicht oder ihren Magen schützend umschließen soll. Von vorne überreicht man ihr mit allerlei Faxen und Küssen eine Trophäe, von hinten wird sie verkabelt, von links und rechts durch Moderatoren in die Zange genommen. Dies ist der unwahrscheinlichste Ort der Welt für einen Moment der Innerlichkeit, aber für eine Sekunde fängt die Kamera ihr Gesicht ein: Sie ist ganz bei sich. „Lena, congratulations. Any words to describe this moment?“ Sie dreht den Kopf, sieht den Fragenden an, als bemerke sie ihn zum ersten Mal, versucht zu antworten. „It’s just…“ – sie zögert, lässt den Blick schweifen über die Menge, als bemerke sie auch diese zum ersten Mal, sammelt sich – „ähm…“, ein leises Lachen über die eigene Fassungslosigkeit, ein Augenaufschlag, Pause. Und dann, in die Menge hinein, doch so, als offenbare sie sich einem heimlich Angehimmelten, ein beinahe schüchternes, vollkommen entwaffnendes: „Hi!“ Achtzehntausend Herzen schlagen Purzelbäume.

Licht an, Mädchen da: Lena zeigt sich, wenn sie sich zeigt. So zeigt sie sich. Und deshalb lieben die Menschen sie. Ja, lieben. Es gibt keinen Grund, an der Benutzung dieses Wortes Anstoß zu nehmen. Ich spreche von der allgemeinsten Form des Liebens, die nicht nur der Liebe zwischen Liebenden, sondern auch zwischen Geschwistern, Freunden, Eltern und Kindern gemeinsam ist. Lieben in diesem allgemeinsten Sinne heißt nichts weiter, als das Glück eines anderen Menschen um dessen selbst willen als Bedingung des eigenen Glücks zu empfinden. Dass dies um jenes Menschen selbst willen geschieht, heißt zunächst: ohne Blick auf eigenen Vorteil und Profit; es heißt aber auch: ohne Blick auf des anderen Vermögen und Verdienst. Letzteres ist schwer zu verstehen, aber es ist so. Die Liebe richtet sich auf einen Menschen direkt, einfach als das Du, das er ist, ohne Aufrechnung seiner guten gegen seine schlechten Eigenschaften. Häufig schlägt sie zu, bevor man auch nur die Chance gehabt hätte herauszufinden, welches die Eigenschaften dieses Du überhaupt sind. Warum von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet dieser eine? Weiß man die Antwort? Muss man das wissen?

Die erste Nacht – und das erste Lied einer langen Reise. Licht an: ein Mädchen in einem grauen Kleid, ein staksiger Gang, ein nervöses Winken, ein tiefes Atemholen. Musik an: ein Urknall, eine Eruption, eine Verwandlung. Ein Singen, Flüstern, Knurren und Jubilieren, ein Wirbeln, Flirten, Springen und Kokettieren. (Derweil im Vordergrund: ein Fingerschnipsen, Kopfnicken, Pfeifen.) Musik aus, Licht an: wie aus einem anderen Film langsam aufgeblendet, ein Mädchen in einem grauen Kleid, das vor Glück und Erleichterung bebt, zittert und jubelt. Und mit seinen Händen ein Herz formt.

Es ist kein Wunder, dass das L-Wort bereits in dieser ersten von Lenas Nächten fiel, in einem heute als prophetisch geltenden Satz. Die Schneise, die dieser magische Auftritt wie ein Komet beim Aufprall auf die Erde durch den Dschungel des Internets gebrannt hat, ist noch heute gut sichtbar. Der Tenor der zahllosen spontanen Beiträge jener Nacht in Internet-Foren und Kommentarspalten bewahrheitete den prophetischen Satz, noch bevor er zu Ende gesprochen war: Sie ist es. Hört auf zu suchen. Aus der Sicht derjenigen, für die einfach alles, sogar die Liebe, Gegenstand eines Wettbewerbs sein muss (ich nenne sie die Wettbewerbshüter), war das irrational: Es hätte ja noch etwas Besseres kommen können! Aber die Liebe wählt nicht den Sieger eines Vergleichs, sondern sie zersprengt das Vergleichen als solches. Wäre es anders, so wäre sie durch den Tatbestand aus der Ruhe zu bringen, dass es objektiv betrachtet immer Menschen gibt, welche in dem fraglichen Vergleich noch besser abschneiden würden. Doch wer liebt, ist nicht interessiert an einem vergleichbaren Modell mit genauso guten, auch nicht an dem Nachfolgemodell mit verbesserten Eigenschaften. Die Liebe sondert einen Menschen vor allen anderen aus, und was sie ihm verspricht, ist genau dies: dass er sich keinem Vergleich mehr stellen muss.

Die letzte Nacht und das letzte Lied einer Tour. Ein Konzert auf seinem Höhepunkt, aber gleichzeitig ist es keins mehr. Die selig lächelnde Band hält den Takt, aber sie müsste nicht mehr spielen. Das euphorische Publikum überschüttet die Bühne mit Liebe und Dankbarkeit, aber es müsste nicht mehr klatschen. Eine Sängerin, der Tränen des Glücks über die Wangen strömen, versucht noch eine Strophe herauszubringen, doch sie vermag es nicht mehr. Aber das macht nichts. Hier geht es längst nicht mehr um Vermögen und Verdienst, und sie weiß das. Sie könnten jetzt auch alle miteinander schweigen. Elftausend Herzen, und vierhundert, und ihres.

Der Satz, auf den alle diese Worte eigentlich zulaufen, lautet: Lena ist unvergleichlich. Und damit meine ich nicht, dass sie jeden Vergleich siegreich besteht. Gerade nicht. Genau das nicht. Sondern ich meine: Sie ist nicht zu vergleichen. Und zwar in dem Sinne, in dem wir von dem, was uns am Herzen liegt, sagen: Es ist nicht zu verkaufen. Das bedeutet: Es steht nicht zum Verkauf. Es ist dieser Praxis entzogen. In diesem Sinne steht Lena nicht zum Vergleich. Von LML zu sagen, sie sei unvergleichlich, heißt deshalb nicht, zu behaupten, dass sie die Beste sei – die Beste im Wettbewerb mit den anderen. Unvergleichlich ist kein Superlativ. Diese Einsicht fest ins Auge zu fassen, bedeutet völlige Immunität gegen die Angriffe der Wettbewerbshüter zu erlangen. Weder irritiert mich deren unermüdlich wiederholte Einrede, Lena sei nicht die Beste (in Sachen ausgebildeter Stimme, Singlehits, Plattenverkäufe, Chartswochen, Votingclicks und was noch alles). Noch fühle ich mich aufgefordert, ihnen nun meinerseits zu demonstrieren, dass Lena eben doch zu den Besten zähle, etwa was stimmliche Expressivität, Interpretationsgabe und Ähnliches angeht. Obwohl das wahr ist, ist es für mich unerheblich. Denn es erklärt ja wiederum nicht, wieso denn kein anderer von den Besten in diesen Disziplinen mir das bedeutet, was mir Lena bedeutet. Lena ist zu schade für Superlative, zumal für fragwürdige.

Will ich damit bestreiten, dass Lena wunderbar singt, eine fantastische Interpretin und ein in jeder Hinsicht schöner Mensch ist, und dass alle diese Eigenschaften wesentlich dafür waren, dass sie überhaupt ihren Weg auf die Bühne finden konnte und deshalb für uns da sein kann? Das sei ferne. Vielleicht kann man es so sagen: Lenas wundervolle Eigenschaften sind der kontingente Anlass der Liebe zu ihr – aber nicht ihr wesentlicher Inhalt. Sie sind, weshalb wir Lena lieben lernen konnten, aber nicht, was wir lieben. Dieses Was ist schlicht: sie selbst. In einer von Lenas Nächten bekannte sich die USFO-Jury einmal sinngemäß zu der Aussage, in ihren Augen könne Lena nichts falsch machen, selbst wenn sie etwas falsch mache. Fragwürdig wäre diese Aussage als Urteil von zum objektiven Vergleich verpflichteten Juroren, und so ist sie damals von den Wettbewerbshütern auch mit Wutgeheul quittiert worden. In Wahrheit formulierte sie die Abdankung der Jury in Form einer Liebeserklärung: eines Bekenntnisses zu Lenas Unvergleichlichkeit.

***

Eine neue Nacht. Ein Mädchen wacht auf, reibt sich die Augen und hat das Gefühl, dass es mindestens die letzten zwei Tage seines Lebens verschlafen hat. Ihr ist kalt, aber der Blick auf die Uhr vertreibt den Impuls, liegen zu bleiben. Sie würde gerne weiterschlafen, um nachzudenken, aber sie weiß, sie muss los. Der Kleiderschrank ist unaufgeräumt und so zerrt sie bloß die nächstbeste Jeans und ein halbwegs sauberes T-Shirt hervor, steigt in ihre brandneuen Sneakers, öffnet die Tür und tritt hinaus, hinter die Bühne, von wo aus sie die Halle sehen kann. Sie ist schockiert über das, was sie sieht. Wo alle diese strahlenden Menschen hergekommen sind, kann sie sich nicht so richtig erklären, und sie weiß auch immer noch nicht genau, was sie davon halten soll. Sie weiß nur, sie trägt ihre neuen Schuhe, und obwohl dies alles furchtbar verwirrend ist und es vielleicht immer bleiben wird, fühlt es sich richtig an.

Weiß sie, dass sie nichts falsch machen kann?

Sie holt tief Luft und greift entschlossen nach dem Mikrofon. Keine Angst. Die Bühnenlichter flammen auf. Tausende Herzen schlagen ihr im Takt entgegen und wollen mitgenommen werden:

Take us wandering! – through these streets, where

Sie kann nichts falsch machen. Dies ist Lenas Nacht.

bright lights

Licht an

and angels

Lena

meet

da

*