Daily Lena

 

Zustände einer Konzertbesucherin

Gepostet von um 19:07 Uhr

 

Warten

Ich sitze im Zug. Die Sekunden dehnen sich lang, wie die ineinander laufenden Streifen vor den Fenstern, die Felder wie mit einer breiten Bürste dahingewischt. Die Farben übereinander, braune Böschung, grün bis ockergelbe Flure, und vom Himmel das Blau. Mit trotziger Kraft. Man kann sich nicht denken, dass die Zeit es schaffen mag, den Tag je zum Ende zu zwingen. Aber helfen will ich ihr. Zu sehr ersehne ich den Abend, die Musik, die Begegnung. Ich pflücke meinen trägen Blick von der vorbeiziehenden Gegend, schiebe meinen Rücken wieder gerade an das Sitzpolster und spanne ein wenig die Muskeln an. Anschieben mit kleinen Handgriffen, so gut es eben geht. Ich ordne das Kabel meiner Kopfhörer, fahre mit den Fingern über die Kunststoffschnur bis hin zum Ohrstöpsel. Den rechten. Den linken. Die Zeit voranstupsen. Ich schiebe sie ins Ohr. Rechts. Links. Das Rauschen des Zuges und die Töne des Abteils werden dumpf zugedeckt. Ich warte einen Augenblick, zerteile die Zeit noch einmal und lausche meinem Atmen. Ich will die Erwartung erst im ganzen Körper spüren. Fokussieren auf den kommenden ersten Trommelschlag. Start. Sternenstaub.

 

Eilen

Wie die Menschen alle schwärmen, wie wilde Bienen, denke ich, als ich zu Fuß über den Asphalt der Stadt laufe. Innere Unruhe zwirbelt sich im Magen auf, bildet einen Propeller mit scharfkantigen Flügeln, der mich umtreibt und sich bis unter meine Kehle hebt. Es wird schon alles klappen, ich werde sie sehen und sie wird singen, sage ich mir. Doch kommt es mir seltsam unwirklich vor, die wirren Raum- und Zeitfäden durchkreuzen zu können. Jetzt rennen die Minuten. Der Menschenschwarm formiert sich zum Strom. Er läuft geradeaus in die Vorfahrtstraße. Abbiegen! Ich muss doch nach links? Wohin laufen sie? Ich verharre atemlos an der Kreuzung, fasse in meine Jackentasche und ertaste die Eintrittskarte, das glatte Papier, Reliefschrift wölbt sich an der Seite unter meinen kleinen Fingerkuppen. Jeder Buchstabe wie ein warmes Versprechen. Nur ruhig. Ich schlucke und drücke den Propeller ein bisschen weiter nach unten. Das Wichtigste habe ich doch.

 

Begegnen

Zögernd schleiche ich an der Mauer entlang. Kalt und ungebeugt steht sie mir zur Seite, ich möchte mich fast bedanken. Nicht uneigennützig innehalten, angelehnt an ihrer rauen Fassade meinen vernünftigen Gedanken nachgehen. Mit jedem Schritt näher an der Szenerie erkenne ich mehr Einzelheiten, die bunte, sich stetig verformende Traube vor dem Konzertlokal zergliedert sich nach und nach in hunderte Schöpfe, Arme, Beine, Mäntel. Ich erkenne Männer, Kinder, Frauen. Klirrendes Gelächter bricht immer wieder das Brummen der gestapelten Unterredungen. Schon brandet mir alles lauter entgegen. Was mache ich hier? Ich muss an meinen Schreibtisch im Büro denken, den schönen großen Monitor und die weißen Pappschnellhefter mit geordneten Notizen in der unteren leichtlaufenden Schublade. Eine Hand erreicht mich am Arm, und ich finde mich in einer weichen Umarmung wieder. Ich entdecke Lenas Gesicht auf einem Plakat, wie gemalt, hinter den Köpfen der Menge an der matten Glasscheibe der Eingangstüre. Ich lache ein bisschen. Über mich, leise in mich hinein. Und wende mich der Anderen zu. Wir drängen gemeinsam in die Traube. Plötzlich ist der Abend da.

 

Beben

Die Sekunden drängeln. Lebhaft hüpfen sie vorwärts, immer ein Stück zu schnell und an meinem Herz-Takt vorbei, als sich die Türen öffnen. Gedrängt treiben wir hinein und strömen in den Saal. Aufgeregt bestelle ich ein Bier und halte mich am Tresen fest. Der Schaum steht firm im Glas. Ich denke an sie, und Ehrerbietung ertränkt alle bisherigen Gedanken, als ich mich zur leeren Bühne drehe. Hier wird sie gleich stehen. So nah vor so vielen. Hitze steigt in meinen Kopf. Unsere Unterhaltungsfetzen verlieren sich bedeutungslos zwischen den gewaltigen Spannungen im Saal. Die Momente gleiten schnell dahin, ein paar Tropfen rinnen vom beschlagenen Glas über meine Finger. Edith Piaf ertönt und durchrauscht mich. Unordentlich knote ich meine Jacke um die Hüften. Hinter mir pfeift jemand. Die LED-Buchstaben über der Bühne strahlen auf. L, E, N, A.

 

Vollendet

Sie ist da. Mit den braunen Augen lacht sie, schüttelt die Haare zum Bass und sie fliegen so schön, die glänzenden Strähnen. Wie Elektrizität, denke ich, unaufhaltsam fließt Elektrizität in ihr, auf jeder Stelle ihrer Haut, in jedem Blick und jedem Laut. Zwei Töne stoßen das Ohr, kratzen an der Harmonie. Dann heben sie an. Ihr Gesang fliegt in eine vollendete Melodik, kraftvoll und so glockenhell, dass meine Lider sinken und meine Arme schwingen von allein. Ein anderer Beat, sie wirft sich hinein. Piano. Sie segelt auf dem Tönemeer, sie segelt dahin. Besonnen, dann ungezähmt. Seliger, gleichsam schmerzvoller Ausdruck entspringt einer Strophe. So kompliziert. Reine glucksende Freude, als der Applaus sie umspült. Immer mit aller Leibhaftigkeit und Seele stürzt sie ohne Zurückhaltung in die Augenblicke. Ich falle mit.

So schäumt die Zeit. Alles ist richtig, genau jetzt und fließt ineinander. Lena und ich, die Anderen, die Lichter, die Musik und die Luft zwischen uns. Hunderte Puzzleteile verbinden sich und fügen sich mühelos zu einer Welt. In diesen Momenten will ich versinken. Wenn es ein Ende gäbe, denke ich, wenn sich alles auflösen müsste, jetzt wäre ich versöhnlich. Jetzt wäre es gut.