Daily Lena

 

Here Comes the Sun: Stardust

Gepostet von um 17:46 Uhr

by bates, gauloises, jupp & walter

Man lernt ein neues Lied schon vor dem ersten Hören kennen. Bereits der Titel ist ein Wegweiser. Seit Ende Juli wussten wir: Der Name von Lenas drittem Album wie der ersten Single daraus wird Stardust sein, und wie könnte ein solcher Titel bei dieser Künstlerin nicht in Mehrdeutigkeiten explodieren, die einem entgegenfliegen, ob man will oder nicht?

Das Wort „Star“ hat in Lenas Laufbahn vom ersten Moment an eine große Rolle gespielt. Schon wegen des Namens der TV-Show, in der sie die Bühne betrat, aber auch wegen des Starappeals, den ihr ein Deutschrock-Urgestein nach ihrem ersten Auftritt bescheinigte. And this was only the start: Kometenhafter Aufstieg. Lichtgeschwindigkeit. Satellit. Überlichtgeschwindigkeit. Sonnenschein. Supernova. Pulverisierung. Sternenstaub. Im assoziativen Feld rund um das Wort „Star“ ist Stardust zunächst ein Bild für Vergänglichkeit, ja Zerfall, für das, was vom Star-Sein übrig bleibt. Was auch aus Sicht der Wissenschaft hinkommt: Stardust, Sternenstaub, das sind tatsächlich Überbleibsel von Supernovae, mikroskopische Materiepartikel, die beim Auf- und Verglühen gigantischer Sonnen entstanden sind. Auf der einen Seite künden diese Teilchen, eingeschlossen in Meteoriten, von einer Zeit, die unendliche Jahrmillionen vor dem Erwachen menschlichen Lebens liegt. Doch zugleich sind es Teilchen, die bis ans Ende der Zeiten bestehen werden: Der tatsächlich existierende Sternenstaub ist ein Symbol für Unvergänglichkeit, invincible.

Diese Metaphorik, deren Widersprüchlichkeit ihren Reiz ausmacht, liegt zu nahe – und die Mär vom schnell verglühenden Stern wurde zu oft erzählt –, als dass man glauben könnte, niemand in Lenas Team hätte zumindest flüchtig daran gedacht, als die Entscheidung fiel, ihr erstes Lebenszeichen seit dem Abebben des zweiten und letzten Eurovisionshypes ausgerechnet Stardust zu nennen. Jedenfalls kann man sich keinen schöneren, selbstbewussteren, herausfordernderen Titel vorstellen, um ein neues Kapitel in Lenas Laufbahn aufzuschlagen.

Für Interpreten, die mit ihrem ersten Album und einem entsprechenden Hit bekannt geworden sind, ist das zweite Album – so will es das Klischee – immer das schwerste, weil es nach der Entscheidung verlangt, ob man auf der bereits erprobten Schiene weitermachen oder etwas Neues wagen soll. In Lenas Fall hingegen hat sich diese Frage tatsächlich erst nach ihren ersten beiden, wesentlich vom Zeitplan des Eurovision Song Contest diktierten Alben gestellt. So gesehen ist Stardust, ihr drittes Album, eigentlich ihr zweites. Und gleichzeitig ihr erstes. Denn zum ersten Mal hat sie die Antwort auf die Frage, wie das denn klinge, Lena-Meyer-Landrut-Musik, selbst gegeben. We’ve been waiting for the sun to come out and play: Ja, Lena, so ist es wohl. Aber jetzt bist du ja wieder da!

Als Metapher hat der Sternenstaub seine Geschichte in der Popmusik. Stardust ist einerseits der Titel eines legendären Standards des Great American Songbook, 1927 von Hoagy Carmichael geschrieben und zu seiner Zeit interpretiert von allem, was Rang und Namen hatte, Nat King Cole, Ella Fitzgerald, Sinatra, Armstrong, Coltrane. In diesem Stück sommernachtblauer Melancholie lauscht der Sänger einer fernen Melodie, die für ihn die Erinnerung an seine lange vergangene große Liebe in sich eingeschlossen hat wie der Meteorit den Sternenstaub: I spend the lonely night dreaming of a song, the melody haunts my reverie and I am once again with you, when our love was new and each kiss an inspiration, but that was long ago, now my consolation is in the stardust of a song.

In Joni Mitchells Klassiker Woodstock von 1969 hingegen, der offensichtlich eine Inspiration für Rosi Golans Lyrics war, steht Sternenstaub für die göttliche Herkunft des Menschen und die Sehnsucht nach seinem verlorenen paradiesischen Einklang mit sich selbst und der Welt: We are stardust, we are golden, billion year old carbon, and we’ve got to get ourselves back to the garden. Es ist dieses Motiv, das in Lenas Song aufgenommen, aber ins Gegenwärtige und Hoffnungsvolle gewendet wird. Aus Mitchells wehmütiger Klage wird Lenas von einer hypnotischen Marschtrommel vorangetriebene jubilierende Hymne an den erwachenden Tag und den Mut, das Leben jeden Tag zu leben, als sei es der letzte: No one can catch us, nothing can change this, covered in stardust, living every day, invincible. Und weil diese Haltung so wunderbar zu Lena selbst passt, könnte es keinen geeigneteren Song geben, um das Album zu eröffnen. Der Sternenstaub, der uns golden umhüllt, stammt von einem Stern, der gerade erst begonnen hat, aufzugehen.

Freilich – nicht nur wir sind umhüllt von Lenas Stardust; auch sie selbst zeigt sich emphatisch leuchtend in ihrem Reisebericht aus der kalifornischen Metropole Los Angeles, den sie kürzlich in einer großen Programmzeitschrift veröffentlicht hat. Diese Koinzidenz erweist sich als überaus stimmig, nicht nur weil Rosi Golan, die Hauptautorin dieses Liedes, dort heimisch ist, sondern vor allem, weil Stardust genauso großformatig und lichtdurchflutet klingt, wie die Stadt, in der es entstand, in Lenas Worten erscheint: „Die Umrisse der Palmen vor leuchtend rotem Himmel: Auf jedem Bild wäre das der größte Kitsch, in Wirklichkeit gibt es kaum etwas Schöneres. Das Licht ist an der Westküste sowieso besonders, sehr weich.“

Diese Zeilen lesen sich wie der in Prosa gefasste Subtext zu Stardust, und das Lied tönt wie der Soundtrack zu dem Ort, den sie beschreiben. Für den Hörer, der dem „kalten, harten Licht“ Nordeuropas ausgesetzt ist, wie Lena schreibt, bedeutet das: Er kann Stardust als das zitierte kitschige Palmen-und-Himmel-Bild abtun, oder er kann wahrnehmen, dass es in der Pop-Wirklichkeit kaum etwas Schöneres gibt.

Wir empfehlen Letzteres.

Wie beim Sonnenaufgang baut es sich langsam auf – und hinten bricht alles heraus. Der Song ist imposant. Der Song ist Bombast. Und das auf allerhöchstem Niveau. Im Zeitalter abgeschmackter Plastikorgien endlich mal wieder ein tonales Ereignis. Keine Aufgeblasenheit, sondern audiophiles Cinema. Swen Meyer und sein Team haben den allerfeinsten Schliff angewandt. Die Kulisse um den Gesang ist filigran austariert und eindrucksvoll – sowohl in den langsameren Momenten wie im wuchtigen Schlussteil. Doch über allen Instrumentierungen und Arrangements liegt der eigentliche Klangkörper, charismatisch, den Hörer im Herzen packend, voller Wärme, im Finale sich in einer furiosen Eruption entladend: Lenas Stimme. Eine Ode an die Freude. Etwas Besseres kann einer Hymne nicht widerfahren.

Die aufwendige Studiofassung darf nicht darüber hinwegtäuschen: Stardust ist in jeder Form prädestiniert für einen Live-Klassiker. Dass Lena dieses Stück selbst mit einer verhältnismäßig bescheidenen Instrumentierung mitreißend performen kann, hat sie jüngst auf dem Hamburger Reeperbahn-Festival demonstriert. Stardust brilliert auch unter reduzierten Bedingungen. Allerdings, auch dies muss noch hinzugefügt werden: Wenn ein Song des neuen Albums förmlich danach schreit, eines Abends in einem feierlich illuminierten Fußballstadion, mit Unterstützung eines 200-köpfigen Gospel-Chores, von dieser begnadeten Interpretin zelebriert und in kosmische Dimensionen getrieben zu werden, dann ist es Stardust. Die Eröffnung von Olympischen Spielen wäre ein angemessener Anlass. Oder schlicht die Besiegelung des Weltfriedens. Jumping off the edge, reaching for the moon.

Das Warten hat ein Ende: Lenas drittes Album und die Single Stardust sind erschienen. Der Lenaisten-Blog feiert und bespricht die dreizehn neuen Songs des Albums und der Single. Zwei Wochen lang, jeden Tag einen Song. Morgen: Mr. Arrow Key.