Daily Lena

 

Look at all the lonely people: Neon

Gepostet von um 08:00 Uhr

„In dem Lied geht es darum, wie die Welt so voll ist, und doch so leer. Man ist einsam, aber doch nicht einsam. Und alles ist gut, wenn die Musik angeht.“
(Lena über Neon)

Wer eine biografische Spur zu Neon suchen möchte, kann sie vielleicht zwischen drei Äußerungen finden: Sie sei „keine Partymaus“, bekannte Lena seufzend, als sie mit Casper durch die Nacht fuhr. Im gleichen Zeitraum verriet sie dem Tagesspiegel, dass sie gerne Clubs wie das Berliner Watergate besuche, jene Orte also, an denen die Leute das tun, was die Leute in Neon tun. Und wenn sie im Interview auf midde.de sagt, sie sei „ein Beobachtungsmensch“, der gerne „guckt und zuhört“ und sich Gedanken mache über die anderen Leute, dann finden wir hier vielleicht das verbindende Glied zwischen den beiden ersten Aussagen. Doch bleibt die Frage nach dem Entstehungshintergrund letztlich unerheblich: Wie jedes echte Kunstwerk kann Neon ganz für sich bestehen.

Wenn man Lena freilich kennt, dann verzückt es einen, wie sehr dieser funkelnde Song Altes und Neues zusammenbringt. Wie er zum einen weit zurückreicht in das Gefilde der vertrackten Jazz-Pop-Nummern der USFO-Zeit, die Lena wie keine andere als interpretatorische und imitatorische Spielwiese nutzen kann, wie er zum anderen aber, was die Musikalität von Lenas künstlerischem Ausdruck betrifft, eine neue Stufe erreicht. Lenas Musikalität liegt darin, Beobachtetes und Erlebtes, Abgeschautes und Abgelauschtes, das sie in sich eingesogen und durchfühlt hat, durch das Medium Gesang mit fast schmerzhafter Direktheit wieder zum Ausdruck bringen zu können und daraus Kunst zu schaffen; singend Bilder zu malen und Geschichten zu erzählen. Das ist die Essenz, darin liegt der Zauber. Alle Diskussionen um ihre Gesangsdarbietung, die das nicht berücksichtigen, gehen am Wesentlichen vorbei.

Lenas Gesang ist immer Rollenspiel. In welche Rolle schlüpft sie in Neon? Neon ist ein Song übers Nachtleben. Die Strophen enthalten Gesprächs- und Gedankenfetzen, die von Oberflächen und Befindlichkeiten handeln, von Flirtversuchen und Abweisungen. Noch ’n Drink? Wollen wir tanzen? Nein, keine Lust jetzt. Er sieht aber wirklich süß aus heute. Hätt’ ich mal bloß die neuen Sachen an. Ach, schon wieder derselbe Club, dieselbe Musik, langweilig. – Auf dieser Ebene ist Neon noch die Momentaufnahme eines einzelnen Abends, wie ihn eine Clubgängerin in Lenas Alter häufig erleben dürfte. Doch ist das Ich, in das Lena schlüpft, das einer konkreten Figur in einer konkreten Nacht?

Hören wir hin: Über einen von Schlagzeug und Kontrabass vorangetriebenen Rhythmus, der halb zurückgelehnt, halb angespannt auf etwas zu warten scheint, gespenstert Lenas Stimme hin und her, teils kühl und von fern mit viel Hall unterlegt, dann wieder nah und warm und erdig, begleitet von auf und ab huschenden Einsprengseln eines Nachtbar-morgens-um-vier-Klaviers. Die Stimme bewegt sich gleichsam bald an diesen Tisch, bald in jene Nische, adaptiert die aufgeschnappten Worte, gibt die in ihnen liegenden Gefühle wieder, Gefühle, wie man sie bei Menschen an diesen Orten und zu dieser Uhrzeit so findet, Gefühle zwischen Aufbruchsstimmung und Übermüdung, Überdruss und Sehnsucht, Angemacht-Sein und Abgetörntheit.

Meisterhaft, wie Lena ihre Stimme intuitiv und emphatisch auf einem Grat zwischen leicht anhysterisierter Gereiztheit und schläfrig-laszivem Gelangweiltsein entlangbewegt. Und mittendrin landen dann so irritierende, irritierend gesungene Worte wie I’ve had better days, in denen das Ich die Rolle der jugendlichen Clubgängerin zu verlassen und zu irgendwas Älterem zu werden scheint. Wenn Lena schließlich singt: We know the place, we know the DJ, we know the colours, we know what’s coming next … no surprises, because we’ve been there, because we’ve done this … dann liegt etwas bisher so nicht gehörtes Erfahrenes in ihrer Stimme, etwas zugleich Abgeklärtes und Sehnsüchtiges, das diesem durchaus auch groovigen und tanzbaren Song eine beeindruckende Tiefe gibt. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass sich dieser Effekt in der Live-Darbietung verstärken wird.

Die zentralen, immer wieder wiederholten Worte in Neon sind „we know“, sie zeigen ein wissendes Ich (we know) und eines, das sich an die Stelle aller lonely people setzt (we know). Lenas Neon-Persona ist also weniger eine konkrete Figur als die Verkörperung einer Stimmung. Und diese Stimmung ist nicht die einer konkreten Nacht, sondern die aller Nächte, seit es Nachtschwärmer gibt. Neon bringt etwas zum Ausdruck, was da ist, seit es Nächte in Städten gibt und lonely people, die darin herumflattern.

Der Refrain ist denn auch mehrstimmig – und nebenbei derart eingängig und mitreißend, dass er unerwartet auch Neon zu einem der vielen fast zwingenden Single-Kandidaten auf Stardust macht. Er bringt die ambivalente Stimmung des Songs perfekt auf den Punkt, denn jenes abgeklärte, fast schon trauernde Wissen um das, was kommt …

As the sun goes down, Neon is all we have / and it’s calling all the lonely people

… enthält zugleich eine Aussicht, eine Verheißung, eine Sehnsucht auf das, was noch kommen könnte …

As the night goes on, tryin’ a different song, so we won’t be one of the lonely people …

… denn jener different song, das ist nicht nur eine andere Bar, ein anderer Club, sondern ein Sehnsuchtsort, der all the lonely people immer wieder suchend auf die schönen Oberflächen der Neon-Nächte zieht, so let’s go.

Ein helllichter Tag im Hochsommer, in einem Hotel irgendwo in einer norddeutschen Großstadt. Das Mädchen neben dem Gitarristen trägt ein luftiges Sommerkleid. Während er fordernd die Akkorde anschlägt, hebt das Mädchen an zu singen, es hat die Augen geschlossen, es zieht die Schultern hoch, halb wirkt es fröstelnd, halb behaglich in sich ruhend, es ist völlig präsent und zugleich an dem anderem Ort, an den es seine Zuhörer mitnimmt. Im Hintergrund rauscht polternd eine S-Bahn vorbei und demonstriert nur, dass die Magie dieses Augenblicks nicht gestört werden kann, dass dieser zarte, fragile Vortrag unzerstörbar ist wie ein Diamant. Um die Lippen des Mädchens spielt ein Lächeln, es ist im gleichen Moment jenes Nacht-Ich, von dem ihr Song erzählt, und das Mädchen an diesem Sommertag, hellwach, im Hier und Jetzt, glücklich, uns glücklich machend. We know, we know.

 

Morgen: Bliss Bliss